10.03.2022
Die Tendenz ist im Sozialversicherungsbereich schon seit Jahren zu beobachten: Das Bundesgericht in Luzern fährt generell eine harte Linie, um die Sozialwerke vor einer «Ueberbeanspruchung» zu bewahren, ist dabei auch oft äusserst kreativ und nimmt immer wieder eine unfaire Behandlung der Versicherten in Kauf. Bei der Unfallversicherung hat es beispielsweise die spezielle Adäquanzpraxis erfunden, wodurch Menschen nach einer HWS-Distorsion oder mit psychischen Unfallfolgen praktisch keine Renten mehr erhalten. Ein weiteres Beispiel: Die Ueberwindbarkeitsrechtssprechung, die besagte, dass man psychosomatische Leiden überwinden kann, wenn man nur will. Diese umstrittene Praxis wurde unterdessen zu Gunsten der Indikatorenprüfung aufgegeben. Manchmal werden Korrekturen an dieser harten Haltung unumgänglich, wenn zum Bespiel der europäische Menschenrechtsgerichtshof aufzeigt, dass es für eine Observation eine gesetzliche Grundlage braucht. Oder aber wenn Experten im Auftrag einer Rechtsschutzversicherung und unabhängig davon eine pensionierte Rechtsprofessorin statistisch nachweisen, dass die von Bundesgericht herangezogenen statistischen Löhne zur Berechnung des Invaliditätsgrades systematisch diskriminieren (https://www.wesym.ch/de/rechtsgutachten). Das Bundesgericht hätte nun die Gelegenheit gehabt, seine Praxis zu ändern. Dies wurde mit dem Hinweis darauf abgelehnt, dass man mit dem sog. Leidensabzug Abhilfe schaffen könne. Dieses Instrument wurde jedoch in der Vergangenheit stets nur punktuell eingesetzt und kann wohl kaum eine in den meisten Fällen anwendbare und generell fragwürdige Statistik korrigieren. Mit anderen Worten: Unsere höchstes Gericht nimmt die Fortführung einer diskriminatorischen Praxis in Kauf, die Kirche bleibt im Dorf (Urteil vom 09.03.2022, 8C_256/2021).